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Karten sind Macht – ob in der Kolonialzeit oder im heutigen imperialen System. Doch wie können sie dekonstruiert, neu konfiguriert, von mehreren Akteure*innen geteilt und für die Darstellung alternativer Zukünfte genutzt werden? Wie können sie den prozessualen Fluss der Zeit und die Vielfalt der verkörperten Standpunkte einbeziehen? Können digitale Karten noch das Land erfassen? Können Karten der Macht zu Wegen der Befreiung werden?




























Brian Holmes, Rivermap - Collaborative Cartographies

Künstlerhaus Stuttgart (Deutschland)

28.09.2024 - 22.03.2025

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Brian Holmes hat das letzte Jahrzehnt damit verbracht, ein Online-Kartenpaket für Themen der politischen Ökologie zu entwickeln, während er gleichzeitig seiner Lieblingsforschungsaktivität nachging: die Flusslandschaften des Mittleren Westens der USA, die Küste des Pazifischen Nordwestens und das La-Plata-Becken in Südamerika zu durchstreifen (er scherzt oft über „Kartografie mit den Füßen“). Holmes war zuvor in europäischen Kunst- und Aktivistenkreisen als Essayist und öffentlicher Redner bekannt. Im Laufe dieser Jahre hat er ein neues, aber seltsam vertrautes Genre erfunden, die Essaykarte, gefüllt mit geschriebenem Text, wissenschaftlicher Visualisierung und Multimedia-Bildern. Jedes seiner Projekte entwickelt einen eigenen konzeptionellen Rahmen, eine eigene Erzählstruktur, einen eigenen visuellen Stil und ein eigenes metaphorisches Register, das Ausdruck einer forschenden Subjektivität ist. Gleichzeitig ist jedes von ihnen das Ergebnis eines territorialen Dialogs mit vielfältigen Beiträgen von Künstler*innen, Fachleuten, Einwohner*innen und sozialen Bewegungen, die alle auf die eine oder andere Weise von Aspekten der nicht-menschlichen Welt berührt werden. Die Essaykarte ist daher kein individuelles Produkt, sondern eine verkörperte und immersive Praxis: eine Art, die Hand auszustrecken, das Wasser zu testen, einzutauchen. Heute kehrt Holmes für eine Reihe von längeren Aufenthalten im Künstlerhaus Stuttgart nach Europa zurück, wo er in den 1990er und 2000er Jahren gelebt hat. Im Künstlerhaus wird er zusammen mit weiteren Kollaborateur*innen eine Reihe laufender Recherchen präsentieren und gleichzeitig eine neue Erforschung des Wassereinzugsgebiets des Neckars einleiten.

Das Künstlerhaus Stuttgart veranstaltet keine traditionellen Ausstellungen, sondern versucht stattdessen, durchdringende Stimmungen oder „Atmosphären“ zu schaffen. Die Idee ist, eine Ausdrucksform von ihren unmittelbar greifbaren Strukturen zu lösen und sie in Beziehungen, Vokabeln, alltägliche Abläufe und gemeinsame Ressourcen einfließen zu lassen. Atmosphären entstehen langsam, im Übergang von einer Jahreszeit zur anderen, ein bisschen wie ein Garten, der unter der kahlen Erde keimt und zur Erntezeit eine Vielzahl von Früchten hervorbringt. Rivermap wurde auf dieser jahreszeitlichen Zeitachse konzipiert. Sie beginnt mit der Herbsttagundnachtgleiche in einer kleinen Ecke der weitläufigen Galerie im vierten Stock. In den folgenden sechs Monaten wird sie sich nach und nach mit Bildern, Stimmen, Konzepten und Begegnungen füllen und überströmen.

Learning from Cascadia gibt den Ton an. Das Projekt – keine einfache Karte, sondern ein vollwertiger Atlas – wurde über einen Zeitraum von zwei Jahren in und um Portland, Oregon, in Zusammenarbeit mit dem Kulturorganisator Mack McFarland ins Leben gerufen, mit einem besonderen Beitrag der indigenen Künstlerin Sara Siestreem. Es ist einem Land gewidmet, das sowohl real als auch imaginär ist: der Bioregion Cascadia, die sich von Nordkalifornien bis weit hinauf nach British Columbia erstreckt. Cascadia entstand aus den „ Back-to-the-Land“-Bewegungen der 1970er Jahre als ein möglicher neuer Rahmen für die Besiedlung und Verwaltung des Landes. Die Bioregion wurde von Dichter*innen erdacht – und von David McCloskey, einem Dichter und Kartographen, erstmals auf Papier festgehalten – und hat sich als Sehnsucht und greifbarer Traum in den Herzen von Tausenden, wenn nicht Millionen von Menschen eingeprägt. Doch Cascadia ist nicht nur eine weitere Utopie aus den 70er Jahren. Da der Pazifische Nordwesten die Heimat vieler indigener Völker ist, die über souveräne Vertragsrechte verfügen und immer mehr Unterstützung von Siedler*innen erhalten, hat die Region neue Formen der biokulturellen Bewirtschaftung entwickelt, die weitgehend darauf ausgerichtet sind, die Schäden der industriellen Moderne rückgängig zu machen und neue Praktiken der ökologischen Wiederherstellung zu eröffnen. Learning from Cascadia bietet ein Modell für die Erforschung solcher Wiederherstellungsprozesse und für deren Umsetzung an Orten, an denen sie noch nicht existieren.


Holmes ist der Erste, der zugibt, dass er seine ehrgeizigen Projekte nie ganz zu Ende bringen kann – weil sie nicht wirklich seine sind. Vielmehr sind sie Ausdruck komplexer kollektiver Bemühungen, die sich über Generationen erstrecken und an denen ganze Bevölkerungsgruppen und viele andere Arten beteiligt sind, mit Debatten und Konflikten, die bitter und langwierig sein können. Learning from Cascadia setzt sich mit dieser Komplexität auseinander, indem es die Bioregion mit zwei parallelen Modellen kontrastiert: dem Wassereinzugsgebiet, das vom Staat als hydrologischer Rahmen für die territoriale Verwaltung konzipiert wurde, und der Megaregion, die ein rein kapitalistisches Konzept der unendlichen Stadterweiterung darstellt. Diese Gegenüberstellung impliziert eine Theorie der politischen Ökologie in der Gegenwart, die sowohl dazu dient, die Sackgassen der Moderne zu analysieren als auch aufkommende Praktiken zu dokumentieren, die bereits nachhaltigere Lebensweisen bieten.

 

In der Ausstellung im Künstlerhaus Stuttgart erscheint Cascadia als riesige Karte an der Wand, als interaktives Bild auf einem Touchscreen und als Mittelpunkt eines von Holmes’ neueren Texten, Live Like A River, der hier als risografiertes Pamphlet präsentiert wird. Die gleiche unvollendete Forschung taucht auch in einem neueren Kartierungsprojekt mit dem Titel Biocultural Restoration in the Salish Sea auf. Dieses Projekt verfolgt den kaskadischen Traum in kleineren Dimensionen und konzentriert sich auf die Insel Vashon vor der Küste Seattles im Puget Sound (die selbst gerade informell nach ihren ursprünglichen Bewohnern der Coast Salish Sea umbenannt wird). Diese einzelne Karte, die enger gefasst und in ihrer Gesamtheit leichter zu erfassen ist, wurde mit der neuesten Version von Holmes’ Software erstellt, die er zusammen mit dem brillanten albanischen Programmierer Majk Shkurti entwickelt hat. Mit diesem Beispiel und dieser Technologie, die vollständig quelloffen und für die Zusammenarbeit konzipiert ist, soll das Neckarprojekt gestartet werden.

 

Atmosphären sind ein Synonym für Wandlungsfähigkeit. Im November wird die Ausstellung um die ökologisch-aktivistische Arbeit der Gruppe Casa Río in Argentinien erweitert, mit der Holmes in den letzten sieben Jahren zusammengearbeitet hat. Und im Januar werden zwei weitere Projekte mit dem Videomacher Jeremy Bolen gezeigt, die sich mit den Ursprüngen und Folgen des globalen ökologischen Wandels, auch Anthropozän genannt, befassen. Hier verschmelzen verkörperte und situierte Anliegen mit dem, was der Wissenschaftler Dipesh Chakrabarty „Atmosphären der Geschichte“ nennt: planetarische Prozesse, die alle Lebewesen betreffen.

 


Brian Holmes, Learning from Cascadia, 2018.

Brian Holmes, Learning from Cascadia, 2018.

Ausstellung 28 September 2024 -22 March 2025. Künstlerhaus Stuttgart, Reuchlinstraße 4b - 70178 Stuttgart (Deutschland). T +49 711 617652.












 





 



























 





 











Brian Holmes, Rivermap - Collaborative Cartographies, Künstlerhaus  Stuttgart (Deuschland)

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